12.2.2023 um 19h
F.Chopin: Sonate für Klavier b-Moll
L.v.Beethoven: Sonate für Klavier Nr.26 „Les Adieux“
J.Seb.Bach: Sonate für Violine alleine C-Dur BWV 1005
Manchmal staune ich nicht wenig, wenn mir meine eigenen Vorurteile begegnen. Deutlich erfahre ich dies in meiner Beschäftigung mit Frédéric Chopin. Während manche Menschen einen sofortigen Kniefall hinlegen, ist mir sein relativ chaotisches Schriftsystem oft eine Barriere. Zunehmend beschäftige ich mich mit der mittelöstlichen Klassik und stelle fest, dass die Unbedingtheit des Ausdrucks der klaren Niederschrift vorgezogen wird. Die menschliche Vorstellungskraft von Klängen kann die Zähleinheiten des Oxident umgehen. Jedes System hat Vor- und Nachteile. Währen in der orientalischen Musik vieles weiterhin mündlich überliefert wird, ist das westliche Musiksystem an seinen Grenzen gekommen. Dafür können Entscheidungen und Gedankengänge verstorbener Komponist*innen tiefgreifend nachempfunden werden. Robert Schumann ist ein wunderbares Beispiel für Verschiebungen in der Partitur. Frederic Chopin tat sich meines Erachtens schwerer, seine Visionen zu Papier zu bringen. Dieser Kampf wurde für uns alle ausgefochten. Chopin deckt die Grenzen der Partitur auf. Seine Kompromissfindung enthalten schmerzliche Entscheidungen und eine fast paranoide Angst missverstanden zu werden. Die zweite Klaviersonate öffnet mir den Blick in sein Gefühlsleben. Schon die erste Passage steckt voller kompositorischer Herausforderungen. Die Verschiebungen der Schwerpunkte, die harmonische Extravaganz, der agogische Aufbau, das erste Fortissimo, welches den Takt endgültig bricht. Die Detailüberlagerung begeistert mich. Im Grunde entsteht die gesamte weiter Sonate aus diesem einzigartigen Gebilde. Das choral-anmutende Seitenthema, die Gebirgsläufe in der Durchführung, das Oktav-Gebrummel im Bass, dann die Erlösung – der Todeswunsch in B-Dur. Jeder Kampf wird irgendwann aufgegeben. Im folgenden Scherzo lässt sich Chopin ein letztes Mal darauf ein im Leben zu bestehen. Es wütet und windet sich das Klavier, versucht der Schlinge zu entkommen, die ihm schon am Hals liegt. Nicht heroisch – überflüssig der Bändigungsversuch. Das Tier stellt sich Tod, erträumt sich den Frieden. Ein Wesen mit dem sich Chopin gleichsetzt. Im „Marche funèbre“ tragen sich beide zu Grabe. Dem kämpfen überdrüssig. Die Prozession eine Warnung an uns alle, uns nicht zu überschätzen. Das Finale eines der modernsten Tonfolgen von Chopin. Spiegelt die Verwirrung unserer Realitätswahrnehmung. Wer sich nicht entscheidet wird zweifeln. An seiner Wahrheit, seinen Gefühlen, seinen Entscheidungen. Fiebrig schlängeln sich die Töne, formieren und verlieren sich, verstummen. Wir sind dran. Was tun? Ein greller Schrei, wir stehen allein auf weiter Flur. Allein, mit der Möglichkeit uns zu befreien.
Beethovens Abschied beginnt mit dem Lebewohl, gefolgt von Abwesenheit und ein Wiedersehen in Veränderung. Ingeborg Bachmann drückte es so aus: „Abtauchen, sich ohne den Aufwand von Kraft bewegen, auftauchen, über eine Lichtung gehen.“ Dieser leere Raum, das Nichtwollen, bilden in Beethovens „Les Adieux“ Sonate für Klavier den Anker. Der Beginn eine Ablösung vom Körperlichen. Das Gelöste wendig, jung, entdeckt sich in Distanz. Es braucht, bis Reflexion möglich ist. Das Geteilte kommuniziert, einigt sich auf Parallelen. Wiedervereinigung ausgeschlossen. So tritt die Abwesenheit, der zweite Satz, in Präsenz. Eine Grauzone des Seins, indem Schmerz existieren darf. Dumpf die Resonanz, bis der Heilungsgedanke entsteht. Ein natürlicher Prozess, ohne dass der Zeiger der Zeit pocht. Das Wiedersehen so überraschend, der Übergang so lebendig. Nichts hält mehr, ein Strom zum Meer. Beethoven, der Phantast, lässt ohne Patos Glückseligkeit zu. Nun wird angenommen was unterdrückt wurde, hingeschaut, zugehört. Die Schlussglocken beenden den Bezug zum Irdischen. Es bleibt eine erhöhte Idee des Schicksals. Anmutig gestaltet Beethoven eine Coda der Zustimmung. Alles getan, wie es ging. Feierlich erheben wir uns in himmlische Weiten. Beethoven verabschiedet sich von dieser Welt mit der Gewissheit des Wiedersehens – in veränderter Form.
Bach ist ständige Metamorphose. Seine C-Dur Sonate für Violine ist der Neuanfang. Wir haben zu Grabe getragen, sind gestorben. Was der nächste Schritt? Komm, wir bauen eine neue Welt! Im Adagio versammeln sich all die Veränderten. Verbinden und lösen sich, tauschen sich aus. Den schmerzhaften Erfahrungen wird standgehalten. Alle prüfen ihre Bereitschaft, stimmen sich auf einen gemeinsamen Ton ein. Dann beginnt die Fuge. Stein auf Stein wird errichtet. Wie entsteht das Neue, wenn nicht Schritt für Schritt. Die Struktur der Fuge klar. Thema, variierte Dreiklänge, Mollparallele, Modulationen, der erste Turm. Durchführung, Chromatik, zweiter Turm. Coda. Türme aus Klängen, himmelhoch jauchzend. Eine Himmelsburg. Im Largo werden die Opfer besungen, die es gebraucht hat, um das Neue zu errichten. Es ist eine Andacht, bevor das Leben in die neue Welt gespült wird und vergessen wird, wie viele sie erbaut haben. So ist das Leben, es rauscht und fließt durch den Bach des Vergessens, indem alles schlummert.
Klassik Krise „Ein Lebewohl“ am 12.2.2023 19h Kunstverein Familie Montez
Honsellstr. 7, 60314 Frankfurt
Eintritt: 30/15 Euro (ermäßigt) Abendkasse/Einlass 18.30h
Violine und Klavier: Puschan Mousavi Malvani www.puschanmousavi.com
Anmeldung möglich.